Erwachen

Finster hier. Und eng. Ich bin noch etwas benommen, daher ist es nicht einfach, klare Gedanken zu fassen. Ich liege in Fötalstellung in einem kalten Raum, eingezwängt in etwas, das nicht größer als ein gewöhnlicher Wäschekorb sein kann. Wie bin ich hierher gekommen? Ich erinnere mich an das Treibhaus… die Pflanzen dort waren so üppig, wie in einem Urwald. Perfekt, um sich zu verstecken… Oh. Jemand hatte sich dort versteckt. Jemand, dem ich um alles auf der Welt aus dem Weg gehen muss… Tian Chi, Mitglied der chinesischen Mafia in San Diego. Er hat mich gefunden. Hat er mich hier eingesperrt? Nein. Jemand anders war ebenfalls im Treibhaus, einer der Männer, die uns am Pool so aufdringlich gemustert haben. Er hat Tian Chi aufgehalten, die Erinnerung kommt wieder. Ich bin weggelaufen. Ja, ich bin zu meinem Zimmer gerannt. Dort angekommen… bin ich nicht. SIE hat mich erwischt! Das Mädchen in Pink!

Sie ist hier! Sie sitzt zusammengekauert über mir, über dem Gefäß, in das sie mich gezwängt hat… es ist ein Wäschekorb, ein VERDAMMTER Wäschekorb. Sie grinst. „Hast du gut geschlafen?“

Sie hat mich vor meinem Zimmer eingeholt und festgehalten. Sie war so stark, obwohl sie so zierlich ist. Ich richte mich ein wenig auf und erwarte stechende Kopfschmerzen, doch sie bleiben aus. Davon ermutigt wage ich es, mich aufzusetzen, ohne sie dabei aus den Augen zu lassen. Sie hat sich plötzlich auf mich gestürzt und meinen Hals… geküsst? Wieder bin ich nicht ganz sicher, ob ich meinen Erinnerungen trauen darf. Ich hebe meine Hand und führe sie an meinen Hals. Ich hatte schon halb erwartet, eine Schwellung vorzufinden, doch ich berühre nur glatte Haut. Es war nicht der erste leidenschaftliche Kuss, den ich von einer Frau bekommen habe, doch etwas daran fühlt sich falsch an. Von einem Kuss falle ich normalerweise nicht in Ohnmacht.

„Was hast du mir gegeben?“, frage ich sie. Meine Stimme hallt durch den Raum, der ziemlich groß zu sein scheint. Eine Art Waschraum, was auch den Korb in dem ich stecke erklärt.

„Keine Drogen“, erwidert sie fröhlich, „sondern etwas viel, viel Besseres. Freust du dich?“

„Natürlich. Jetzt musst du mir nur noch sagen, was du mir gegeben hast“. Ich klinge mutiger als ich mich fühle. Ich kenne mich nicht aus in diesem Spa, und bin hier irgendwo im Keller mit einer Verrückten.

„Ewiges Leben. Sozusagen. Wenn du es nicht vermasselst. Was ist, Kitty? Du meinst, sie kennt sich noch nicht aus, ich muss deutlicher werden? Ja, wahrscheinlich. Menschen sind so dumm wenn es um solche Dinge geht“.

Sie hält eine sehr mitgenommene Hello Kitty in die Luft. Mitgekommen ist milde ausgedrückt. Man erkennt noch, was sie darstellen soll, aber sie wirkt im Vergleich zum Original ein wenig wie eine Micky Rourke-Montage – Beginn und Ende seiner Karriere. Das Mädchen spricht mit seiner Puppe wie mit einer Person. Es verwundert mich nicht einmal sehr.

„Also – du bist ein Vampir“. Sie strahlt mich an. Offenbar erwartet sie, dass ich begeistert auf diese Nachricht reagiere. Oder es ihr glaube. Irgendwie schaffe ich es, nicht laut loszulachen.

„Kitty, was meinst du? Glaubt sie uns? Du hast Recht, sie wirkt nicht so. Lass es uns ihr erklären, nur zur Sicherheit“. Sie überlegt kurz. „Ich hab dich gebissen. So bist du zu einem geworden“.

Ich muss wohl immer noch recht  belämmert aussehen, denn sie lacht mich offen aus. „Mach dir nichts draus, es dauert bei allen länger, bis sie es akzeptieren können. Du weißt ja noch nicht einmal, was für ein Glück du gehabt hast – du bist eine Malkav!“

„Ich dachte, ich sei ein Vampir?“, antworte ich gereizt. Langsam macht sie mir Angst.

„Bist du auch. Malkav ist der Name deines Clans, deiner neuen Familie. Du weißt schon, alle Malkavs sind Vampire, aber nicht alle Vampire sind Malkavs. Obwohl eine Welt nur mit Malkavs natürlich viel besser wäre… etwas langweilig vielleicht, was sagst du, Kitty, ohne die lustigen Brujas und die komischen Torries, die man ärgern kann? Ja, ich denke auch. Kitty meint, du siehst immer noch nicht überzeugt aus. Blas mal auf deine Hand“.

Ich bin zu perplex, um ihr nicht zu gehorchen. Ich puste auf meine Hand, doch kein Luftzug ist zu spüren. Ich nehme einen tiefen Atemzug – ich will einen tiefen Atemzug nehmen, doch es fühlt sich an, als würden meine Lungen sich weigern, die Luft anzunehmen. Ich blase wieder auf meine Hand, und spüre nichts.

„Das liegt daran, dass du streng genommen tot bist“, erklärt das Mädchen, „Aber in Wirklichkeit hat für dich ein neues, besseres Leben begonnen. Wie gesagt, du hast großes Glück gehabt, dass ich dich erwischt habe. Sonst wärst du jetzt für die Ewigkeit eine Gangrel, und glaub mir, das hätte dir keinen Spaß gemacht. Jakob wird wahrscheinlich sauer darüber sein“. Ich habe keine Ahnung, wer Jakob ist, aber sie wirkt entzückt darüber, ihn sauer gemacht zu haben. „Und jetzt, wo du weißt was los ist müssen Kitty und ich dir ein paar Sachen erklären“.

Streng genommen bist du tot. Tot. TOT. Ich kann kaum verstehen, was Tinkerbell mir zu sagen hat, denn dieses eine Wort hallt in meinem Kopf wider und sperrt alles andere aus. Clans, Prinzen, Maskerade, diese Begriffe schwirren durch mein Gehirn, nur um von dem schwarzen Wurmloch, diesem einen Wort, ausgelöscht zu werden. Tot.

 

Irgendwann regt sich Hunger in mir, und lässt die Situation ein wenig erträglicher erscheinen. Wo Hunger ist, muss auch Leben sein. Tinkerbell verspricht, mich auf meine erste Jagd zu nehmen.

„Worauf hast du Lust?“, fragt sie fröhlich, „hast du im Spa jemanden gesehen, der besonders appetitlich wirkt?“

„Heute ist mir nach Chinesisch“, antworte ich.

Sie wirkt ein wenig niedergeschlagen. „Ich weiß nicht, ob dein kleiner Freund mit dir spielen kann. Jakob war gestern ein wenig grob zu ihm“.

„Das macht nichts. Sie sind zu zweit hier. Wenn Tian Chi keine Lust hat, dann wird Yan Wong wohl herhalten müssen. Ich habe ihn gestern in der Metalbar gesehen“.

Er ist leichter zu finden als ich erwartet hätte, aber wahrscheinlich hat auch er nach mir gesucht. Obwohl er mich kennt funktioniert die „hilfloses Mädchen“-Routine, um ihn in einen finsteren Winkel zu locken. Tinkerbell übernimmt das Festhalten; wieder bin ich überrascht davon, wie stark sie sein muss für ihren zierlichen Körperbau. Sobald ich zubeiße, hat er keine Chance mehr, sich zu befreien. Mit dem Blut scheint sämtliche Kraft seinen Körper zu verlassen. Allen Warnungen, die Tinkerbell mir mitgegeben hat, zum Trotz, kann ich nicht von ihm ablassen, obwohl das Hungergefühl nachlässt und einer wohligen Sättigung weicht. Ich sauge weiter und weiter – bis das Blut plötzlich einen scheußlichen Beigeschmack bekommt, und ich es angeekelt wieder ausspucke. Yan Wong sinkt zu Boden, eine leb- und seelenlose Hülle. Der erste Mord an einem Menschen sollte das Gefühl von Selbsthass erwecken, doch beim Anblick der Leiche des Mannes, den ich die letzten Jahre immer fürchten musste, erfüllt mich nichts als Erleichterung.

Tinkerbell wirkt allerdings nicht unbedingt erfreut. „Wieso hast du ihn hier töten müssen? Das Spa ist ein Asylum – hier ruhen alle Clankonflikte, und es darf nicht getötet werden!“

„Was wird nun mit mir passieren?“, frage ich.

„Nichts“, sagt sie. Das fröhliche Grinsen ist auf ihr Gesicht zurückgekehrt. „Du bist mein Child, und ich bin für dich verantwortlich. Da ich allerdings keine Lust habe, für die leere Frühlingsrolle da Verantwortung zu übernehmen, werden Kitty und ich dir helfen, sie zu verstecken. Lass uns eine Schaufel organisieren und ihn irgendwo in der Wüste zur letzten Ruhe legen“.

Ich muss ein wenig darüber lachen. Das Schicksal, dass Yan Wong mir zugedacht hatte, wird ihm selbst zuteil. Buddhisten glauben nicht an Karma, aber es ist tatsächlich Miststück.

 

 

Am Ziel

Ich öffne die Tür einen Spalt und warte einen Augenblick, bis sich meine Augen an das Dämmerlicht im Zimmer gewöhnt haben. Rosalie liegt immer noch in ihrem Bett, so wie ich sie verlassen habe. Ich halte sogar die Luft an, um sicherzugehen, dass sie mich hört. Vorsichtig, vorsichtig schiebe ich die Tür ein kleines Stück weiter auf und zucke zusammen, als die verdammten Angeln ein kleines Knarzen von sich geben. Ängstlich schiele ich auf die Gestalt im Bett. Doch da keine Welle von Vorwürfen über mir zusammenschlägt, kann ich sicher davon ausgehen, dass sie nicht wach geworden ist. Ich schlüpfe durch die Tür und ziehe sie hinter mir zu, langsam, damit sie ja nicht zufällt. Zum Glück kenne ich den Fußboden in diesem Zimmer ebenso gut wie den in meinem eigenen, und könnte die losen Bretter im Schlaf überspringen. Innerhalb weniger Sekunden habe ich den Raum durchquert und kuschle mich unter die Decke, an Rosalies Rücken, so als wäre ich nie fortgewesen.

Endlich beginnt mein angespannter Körper, sich zu entspannen, und mein Atem beruhigt sich wieder. Es ist geschafft. Mein letzter Auftrag. Jetzt kann mein neues Leben beginnen. Ich muss in das Kissen beißen, um ein erleichtertes Auflachen zu unterdrücken. Mein neues Leben. Ich habe alle Schulden abbezahlt, die mich an mein altes Leben gebunden haben. Alles, was ich bis noch zu tun habe, ist unauffällig zu bleiben, mit allen alten Gewohnheiten zu brechen, bis die asiatischstämmige Unterwelt San Diegos vergessen hat, dass Sonam Chime jemals existiert hat. Leider habe ich in den vergangenen Jahren einige Leute verärgert, nicht unbedingt die Art von Leuten, die schnell vergibt und vergisst. Aber ich werde es schaffen. Ich bin am Ziel meiner Träume angelangt – im Besitz einer amerikanischen Staatsbürgerschaft, eine schöne Wohnung, Freundinnen, die mir geholfen haben, dies alles zu verwirklichen. Sie brauchen nicht zu wissen, was ich getan habe, um hier zu enden. Sie dürfen es nicht wissen.